Vielen Dank für das Leben 

 
 

Sibylle Berg
 
Vielen Dank für das Leben 
Jedes Jahr kommt es irgendwo in der Welt in einem der 500 Atomkraftwerke zu einer Havarie. Europa ist am Ende. Reiche Inder, Chinesen und Araber schlendern als Touristen durch Paris und fotografieren am Ufer der Seine leicht angeekelt die europäischen Elendsgestalten, die um etwas Brot betteln. Die meisten Menschen leben in riesigen Slum-Zonen. Die Reste der Mittelschicht verbarrikadieren sich in ihren winzigen Wohnungen und haben vor allem Angst davor, im Slum zu landen. Und die Superreichen, denen die Welt gehört, machen es sich schwer bewacht auf ihren schwimmenden Inseln gemütlich.
Dass sie zu übertriebenem Optimismus neigt, kann man Sibylle Berg, die in ihrem neuen Roman „Vielen Dank für das Leben“ dieses Szenario skizziert, nicht vorwerfen. Ihr Blick ist kühl und mitleidlos und angewidert. Betrachtet sie die Menschheit, kommt selten größere Zuneigung auf:

„Wo immer sich Menschen aufhalten, schlagen sie Schneisen des Grauens; wenn sie die Möglichkeit zwischen Schönheit und absurder Ekelhaftigkeit wählen können, entscheiden sie sich stets für das Unfassbare,
vielleicht, weil sie mit der Umgebung verschmelzen wollen.“
Music credits: "The final embrace (Toto's song)" von Mary Ocher (Sängerin und Komponistin

Das ist die Welt, durch die Sibylle Berg ihren Helden Toto begleitet, von 1966, dem Jahr seiner Geburt, bis in eine unerfreuliche Zukunft und seinen Tod im Jahr 2030. Toto ist geschlechtslos, gesegnet mit einer Stimme, die direkt aus dem Himmel zu kommen scheint, ein Hermaphrodit, der sich erst als erwachsener Mensch entschließt, fortan als Frau zu leben. Und sie (oder er) ist die verkörperte Unschuld, ein reiner Tor wie Parsifal, ein Wesen von einer bemerkenswerten Naivität und Zartheit des Gemüts, die sie die Menschen, die sie unentwegt schlagen, misshandeln, demütigen und erniedrigen, mit einem erstaunten Blick betrachten lässt:

Weshalb sind die Menschen so roh?
Was hat man ihnen getan, dass es ihnen so schlecht geht, dass sie sich so benehmen müssen?

„Toto schien über allem zu schweben, was die Welt zu einem widerlichen Ort machte“, schreibt Sibylle Berg über ihre erstaunliche Figur.
Der Roman begleitet dieses Wesen, das nicht ganz von dieser hässlichen Welt ist, von der Heimkindheit im Osten, weggegeben von der Alkoholiker-Mutter, bis in einen genauso unerträglichen Kapitalismus. Ein paar Parallelen zum Leben der Autorin, 1962 in Weimar geboren, mit 22 in den Westen gezogen, sind nicht zu übersehen. Auch Sibylle Bergs Mutter war schwere Alkoholikerin. Mit zehn Jahren gab sie ihre Tochter zu Verwandten. Nach dem Wegzug der Tochter in den Westen hat sie sich umgebracht.

Der Horror, von dem Sibylle Berg schreibt, ist nicht nur Fiktion.
Was Toto im Westen erlebt, ist alles andere als irgendeine Freiheit, es ist der Westen, in dem wir alle leben, bevölkert von Angestellten und Strebern: „Mittelmäßige Menschen mit einheitlichen Gesichtern, in denen nichts strahlte, die Augen tot, alle gleich gekleidet in ihre blauen Uniformen, übergewichtige Körper mit fleckiger Haut, und Gedanken,

die sie alle irgendwo bezogen, aber nicht aus sich, sie alle wollten was mit Medien machen, was Kreatives.“
Totos Sterben im Paris der 2020er-, 30er-Jahre ist qualvoll, langsam wird sie umgebracht von einer ihr bei einer Operation von ihrem sadistischen Liebhaber, einem schwulen Investmentbanker, eingepflanzten radioaktiven Sonde.

Sibylle Bergs zutiefst moralischer Roman ist ein Monster, ein Monster aus Unglück, Weltekel und Hass. Und es ist ein ausnehmend menschenfreundlicher, schöner, zarter Roman, weil in den angewiderten Weltbeobachtungen der Autorin immer die Frage mitschwingt, weshalb sich die Menschen das alles antun.

Sie könnten doch bitte auch einfach freundlich, zartfühlend und großzügig sein.
                    Text: Peter Laudenbach


 

Roman Erscheinungsdatum: 30.07.2012
Fester Einband, 400 Seiten
Mit Leseband
Preis: 21,90 € (D) / 29,90 sFR (CH) / 22,60 € (A)
ISBN 978-3-446-23970-8
Hanser Verlag
Toto ist ein Wunder. Ein Waisenkind ohne klares Geschlecht. Zu dick, zu groß, im Suff gezeugt.
Der Vater schon vor der Geburt abgehauen, die Mutter bald danach. Und doch bleibt Toto wie unberührt. Im kalten Sommer 1966 geboren, wandelt er durch die DDR, als ob es alles noch gäbe:
Güte, Unschuld, Liebe.
Warum, fragt er sich, machen die Menschen dieses Leben noch schrecklicher, als es schon ist?
Toto geht in den Westen, wo der Kapitalismus zerstört, was der Sozialismus verrotten ließ.
Ein wütender, schriller Roman einer großen Autorin,
über das Einzige im Leben, was zählt.

Die Wut allerdings, die Sibylle Berg die Feder geführt hat, ist echt und zieht nachhaltig in Bann.
Es ist eine glasklare, scharfsinnige, stilistisch oft brillant formulierte Wut, eine zornige Trauer,
die Gericht hält über eine Welt,
die an Egoismus, Gleichgültigkeit, Gier, Trägheit und Dummheit zugrunde geht ...
(Badische Zeitung)



 
              meine liebe Freundin Sibylle Berg,
                                         Danke, für das wunderbare Buch