Die Gänsemagd






Geschichte einer Gänsehüterin
Zuerst gab es keinen Anfang
die Pflicht war schon da
schon lange vor dem Licht
und die Mutter sagte stets:

Nur durch Pflicht kommt das Licht.
Das Kreuz war ganz einfach
ohne Füße ohne Flügel
man konnte nicht hinüber
in dem Korn mußte man bleiben
bis zur bitteren Sense.
Die Magd war im Schnee geboren
hell war der Kopf aber finster der Blick.
Die Hauptsache hatte keinen Namen
sie stand am bitteren Ende
in schwarz gekleidet.
Etwas muß es geben
auf der anderen Seite der Blätter
etwas anderes muß es noch geben,
dachte die kleine Magd,
sonst wäre die Musik nicht so schön.
Dort oben fliegen Kreuze herum
Gabelweihe und Adler
irgendwo muß es eine Sonne geben
damit die Kreuze fliegen können
damit sie nicht bleiben müssen
bis zur bitteren Sense.






Aber sie wußte schon, daß man
keine blöde Frage stellen sollte, z.B.
warum die Pflicht, warum das Licht,
und warum könnte es auch nicht gehen
ohne diese verdammte Pflicht.
Deswegen gab sie nur Antworten
hell wie ihren Kopf
finster wie ihren Blick
und bitter wie die letzte Sense.
Hatte sie nicht einmal den guten alten Gott gefragt:
Warum muß man gut sein?
Damals war es noch der gute
alte weise Gott der Liebe.
Er hatte geschmeichelt und gesagt:
Moment, Kleine. Antworten will ich zugleich.
Gerade noch ein paar verlorene Sterne fangen,
das dauert nur ein Tausend Jahr,
denn ungeheuer grau herrscht
die Seele über die Sonne.
Hatte sie nicht einmal
die warme honige Mutter gefragt:
Mutter, sage warum der Himmel
warum das Kreuz, warum das Brot,
warum der Morgen, warum der Tod.
Und die weiche warme Mutter hatte geseufzt
und das Buch der Zeit leise aufgeschlagen. 
Hier steht es geschrieben, Kind.
Vergangenheit ist rotes Leid,
das Weinen wassert kein Gesicht,
nur stumme Steine bevölkern
die fragende Nacht.
Um den Schmerz nicht zu rühren
muß man die Liebe abwürzeln;
die Hoffnung früh abschneiden
damit sie kräftiger nachwächst;
die Sonne nicht mit Gott verwechseln
entweder Sonne oder Gott abschaffen
damit keine Verwechslung möglich sei;
manche gefährliche Worte sowie
Gold und Blut, Kind und Baum
ins Papier zurückstoßen






damit man sie besser verbrennen kann.
Die Welt lange lange
auf den Schultern tragen
damit du einen schönen Gang bekommst.
Ja, Kleine, so kann man ewig bleiben,
nackt in der Erde, den Mund
an die Sonne gefesselt,
so kann man die ewige Pracht
am tiefsten leiden.
 Mutter, das geht doch nicht.
Meine Hände wissen etwas was anders;
Das noch keinen Namen hat.
So ging die kleine Gänsemagd in die Lehre.
Eigentlich war sie in der Lehre geboren
und wußte es nicht. Ohne Pflicht kein Licht.
Und die samtene dunkle Mutter zeigte ihr
wie man die grauen Morgen
in blau anstreicht.
wie man die kostbaren Stunden
mit Tränen einmacht,
wie man Leichentücher und Windeln
in Falten legt,
wie man das Gedächtnis
als Stopf Kugel benützen kann
um die Hoffnung besser zu stopfen.
Die kleine Magd lernte auch, daß man
einen alten Schmerz nicht mehr
verbrauchen konnte, weder durch Flicken
noch durch Kochen.
Aber niemand konnte ihr sagen
warum man Kreuzotter und Kreuzspinne,
Kreuzfahrer und Kreuzritter
immer an Kreuzwegen antraf.
Niemand sagte ihr warum
alle Kreuzträger kreuzlahm waren
und warum es dort oben, bei den Adlern,
fliegende Kreuze gab.
So ging sie aus dem Feld
und fiel auf ein tanzendes Hakenkreuz.
Es konnte fliegen und lachen
es war selbst eine Sonne
eine vierfaltige Sense
freier Anfang, freies Ende.




So blieb die kleine Magd
an dem Hakenkreuz hängen
mit dem Haar und mit den Händen,
aber tanzen konnte sie trotzdem nicht
denn sie trug das Kornfeld mit sich
sie war zwischen Kreuzen geboren.
So heiratete sie die Schuld.
Ihre Knochen aber wurden
nicht breiter dafür. Das Korn
wurde rot mit Liebe und Blut
aber weder Kreuze noch Sense
waren zufrieden.
Das Feld wurde weiß
mit Knochen und Schnee
aber weder Liebe noch Blut
waren zufrieden.
Die Erde wurde schwarz
mit Vergessenheit und Nacht
aber zwar unter dem Wasser
hörte man die Vögel noch schreien.
Die kleine Magd hing
auf den durstigen Kreuzen
und niemand konnte ihr sagen
warum die Lüge immer gekleidet war
und das Elend so nackt
wie Knochen auf Stein.
So ging sie aus der Lehre
zerstoßen aber stolz
und mit den Händen vollen Worten.
Soll die Liebe allein
schuldig sein, dachte sie,
so gibt es auch keine Entschuldigung.
Und sie tauschte die Worte um
gegen die wortlose Welt,
kaufte sich eine große stille Schürze
und sagte zu der Liebe:
Meine Muttersprache bist du.






 Durch Asche und Schnee waren die Jahre
wieder jung geworden
und die Magd so federleicht
so wolkengleich und bergenweiß
daß niemand genau wußte:
war sie noch da oder nicht.
So kam manchmal ein armer Kreuzträger
über Schmerz und Tal bis an den
lebendigen Ort wo sie atmete,
schwang sich mühsam hinauf und fragte:
hier soll Gott wohnen;
habt ihr ihn kürzlich gesehen?
                                                  illustriert/Plakat  Jasmin


Die Gänsemagd aber zeigte die roten Berge
schüttelte den Kopf und flüsterte:
dort hinten. Er wird noch schlafen.
Geht leise, leise, leise...
Und sie rann die Wiese hinab,
nahm geschwind das Kind
das da spielte und versteckte es
unter ihre große stille Schürze.
Denn welcher Kreuzträger könnte das vertragen:
zu erfahren, daß Gott noch ein Kind ist.-
Deswegen bleibt der Schmerz ungehorsam
und alle Zungen sind zurück zur Erde
damit ihn niemand übersetzen kann. 

               Isabelle Reff


Geschichte einer Elsässerin 
poemes 1972 chez Chamballand, Paris.
Ed. Landsfir